13. Kapitel
Es ist erstaunlich, was man innerhalb einer Familie alles totschweigen kann. Wirklich erstaunlich. Und als das Wochenende rum war, kam der Montag, und es war ein wunderschöner Tag. Herbstlich, klar und kühl. In den letzten Jahren hatte ich angefangen, schöne Tage zu verabscheuen, weil sie es einem noch schwerer machten, die ganze Zeit im Büro zu hocken, wo Dean mir alle fünf Minuten über die Schulter schaute und mir in den Nacken atmete und sich vergewisserte, dass niemand gute Laune hatte, bloß weil draußen die Sonne schien. Es war wirklich Mitleid erregend, wie alle im zubetonierten Hof saßen, bloß um beim Verspeisen ihres Pret-a-Manger-Mittagessens einen kleinen Sonnenstrahl einzufangen. Olly und ich wollten an den Wochenenden eigentlich immer ein bisschen rausfahren, aber wenn wir erst mal unsere Zeitung gelesen hatten und er seine Arbeit erledigt hatte und wir uns ein bisschen gezankt hatten und ich im Fitnessstudio gewesen war und ... na ja, die halbe Zeit kamen wir einfach nicht dazu. Genau genommen, eigentlich nie, selbst wenn wir es uns ganz fest vorgenommen hatten.
Aber heute war so ein Schultag, der nach einem grauen Pulli mit V-Ausschnitt und hübschen neuen Schreibutensilien verlangte. Und ich hatte beides! Mum, viel stiller als sonst, hatte sogar Porridge zum Frühstück gekocht, den ich insgeheim heiß und innig liebte, genau wie mein Dad - weshalb sie jahrelang keinen mehr gemacht hatte. Ich versuchte den Gedanken daran zu verdrängen, dass ich eben einen Blick auf den Kalender geworfen hatte. Und ... nun, was soll ich sagen, mir blieben nur noch zwölf Tage bis zu Tashys Hochzeit. Zwölf Tage bis weiß Gott was passieren würde.
Zwölf Tage. Und ich wollte unbedingt das Beste daraus machen.
»Gute Party?«, erkundigte sich mein Dad.
Meine Mum warf ihm sofort einen Blick zu. Den ganzen gestrigen Tag hatte ich mich in meinem Zimmer verschanzt, ganz einfach, um in aller Ruhe die Sonntagszeitung zu lesen, ohne dass mein Dad höhnisch über seiner Mail of Sunday schnaubte und spöttische Bemerkungen darüber machte, was ich mir denn jetzt einbildete. Obwohl er vielleicht dachte, ich hätte mich eingeschlossen, weil ich mich in irgendeinen Kerl verknallt hatte. O Gott. Tja, genau genommen hatte ich ihn sogar geküsst. O Gott. Ich versuchte, so zu tun, als sei das alles nur ein Traum, genauso wie mein restliches Leben. Bloß - ach, es war einfach lächerlich. Ich hatte Schmetterlinge im Bauch. Die hatten seit Jahren Winterschlaf gehalten. Gut, seine Lippen waren unheimlich rosig und unheimlich weich, und er roch wirklich traumhaft, aber das war doch bloß eine Kombination aus Hormonen und Nostalgie. Oder nicht? Streng sagte ich mir: JA.
»Ja«, sagte ich. Und dann setzte ein Reflex ein, den ich schon seit Jahren nicht mehr verspürt hatte. Ja, ich hätte vorher sogar Stein und Bein geschworen, mich gar nicht mehr daran erinnern zu können. Ich tastete meinen Hals mit den Fingern nach Knutschflecken ab.
Mein Dad warf meiner Mutter einen vielsagenden Blick zu, auf den sie aber nicht reagierte.
»Sehr gut sogar«, fügte ich hinzu.
»War deine sexy Vertrauenslehrerin auch da? Die hätten sie als Aufsichtsperson engagieren sollen.«
»Dad!«
Mein Dad kannte Tashy, seit sie sechs war! Sozusagen.
»Ich bin bloß davon überzeugt, dass sie einen guten Einfluss auf dich hat, weiter nichts.«
»Ich glaube, ich gehe heute zu Fuß. Bis dann!«
Ich bummelte die Straße entlang, trat in Laubhaufen, dass die Blätter nur so stoben, und war für einen kurzen Augenblick nichts weiter als ein Mädchen auf dem Weg zur Schule. Mit den Gedanken schon in der Englischstunde ging ich wie gewöhnlich am Haus der Clellands vorbei. Ich musste daran denken, wie ich früher immer hier herumgehangen und gehofft hatte, ihn im Vorübergehen zu sehen. Jetzt versuchte ich, so schnell wie möglich vorbeizuhuschen und dabei von keinem der Clelland-Brüder gesehen zu werden.
Doch draußen am Gartentor stand Clelland der Ältere.
»Ähm, hallo«, murmelte ich.
»Ähm, hallo«, erwiderte er leicht verwirrt. Ich weiß nicht, warum. Schließlich ging ich doch jeden Tag um die gleiche Uhrzeit zur Schule. Nein, nein, gar nicht wahr. Ich war eine Erwachsene mit ganz anderem Tagesablauf und ganz anderen Gewohnheiten, ermahnte ich mich streng.
»Bist du wieder zu Hause eingezogen?«, fragte ich.
»Und du?«
»Touché«, sagte ich.
»Nein, es ist bloß so, Maddie möchte nicht, dass ihre Eltern denken, wir ... du weißt schon. Solange wir im Lande sind.«
»Wieso, sind das religiöse Fanatiker?«
»Und wie. Ich meine, nein ... bloß gläubige Christen, weißt du, ganz normal.«
Da ging die Haustür auf und Justin kam heraus. Und mit einem Mal schlug mir das Herz bis zum Hals. Er sah mich und wurde umgehend rot, von den Ohren bis zum Kragen. Ach du lieber Himmel.
»Komm schon, kleiner Bär«, rief Clelland.
Ich sah die beiden an.
»Ich lasse mich nicht von ihm zur Schule bringen«, brummte Justin mürrisch. »Ich werde ihn bloß nicht mehr los.«
»Ich war die letzten zwei Jahre in Afrika«, erklärte Clelland. »Ist es da zu viel verlangt, ein bisschen Zeit mit seinem .kleinen Bruder verbringen zu wollen?«
»Zeit miteinander verbringen, schön und gut, aber nicht Babysitten«, erwiderte Justin angesäuert. »Und deine blöde Freundin blubbert dauernd nur über Afrika. Was ist denn nun: Gehst du wieder zurück oder nicht?«
Clellands Lippen verzogen sich unversehens zu einem schmalen Strich.
»Wollen wir los?«, sagte er.
Es führte kein Weg daran vorbei. Wohl oder übel musste ich zwischen den beiden hergehen. Clelland guckte mich reichlich amüsiert an.
»Und, was hast du denn heute in der Schule, junge Lady?«
»Ich verkaufe Drogen hinter den Chemie- und Physiklaboren, unterminiere unsere Gesellschaftsordnung, gehe nicht zur Wahl, erwarte von der Welt, dass sie mich aushält, und schlafe mit meinem Sportlehrer«, antwortete ich übellaunig. Justin warf mir immer wieder heimliche Blicke zu und streifte mich wie zufällig mit der Hand, und ich wusste beim besten Willen nicht, was ich dagegen unternehmen sollte.
»Du gehst wohl sehr gern zur Schule«, bemerkte Clelland.
»Seit sie die körperliche Züchtigung abgeschafft haben, ist es nur noch halb so schön.«
Clelland lachte mich aus und schüttelte den Kopf.
Am Schultor wartete Stanzi auf mich. Mit einem gigantischen Knutschfleck am Hals.
»Stanz«, begrüßte ich sie. »Du siehst aus wie eine Landpomeranze.«
»Ist mir egal«, erwiderte sie stolz. »Das ist mein allererster.«
»Ich glaube nicht, dass es unbedingt nötig ist, jeden Schritt deiner sekundären sexuellen Entwicklung in aller Öffentlichkeit zur Schau zu tragen«, gab ich zu bedenken. »Muss nicht sein.«
»Oh, da kommt Kendall«, quietschte sie und winkte wie wild. Okay. Vielleicht hatte sie bis zum Gipfel weiblicher Weisheit noch einen sehr langen Weg vor sich.
Kendall grinste wie ein Honigkuchenpferd, als er sie sah, und kam zu uns gerannt. Oh. Vielleicht auch nicht.
Die beiden kicherten und betatschten sich, und ich tat, als mache es mir nichts aus, während wir gemeinsam zur Englischstunde gingen.
»Miss Scurrison.«
Ich blickte auf und sah eine Lehrerin vor mir stehen.
»Hallo«, sagte ich. »Wie geht‘s?«
Der Rest der Klasse lachte. Die hielten mich für vorlaut. Dabei versuchte ich doch bloß, mich ganz normal zu benehmen. Lehrer sind nicht normal. Und ich wusste, dass mir gerade deshalb immer wieder solche peinlichen Fehler unterliefen, wie Außerirdischen im Film, wenn sie sich als Menschen ausgeben, dann aber versehentlich das Besteck mitessen. Letzte Woche hatten sie mich dabei erwischt, wie ich mir alte Choräle anhörte.
»Mir geht es gut, danke der Nachfrage, Miss Scurrison«, erwiderte Miss Syzlack sarkastisch. »Mir geht es am Montagmorgen immer hervorragend, nachdem ich das ganze Wochenende mit Korrekturen zugebracht habe.«
Ich nahm den Aufsatz, den sie vor mich aufs Pult gelegt hatte. Eine Eins! Noch nie in meinem ganzen Leben hatte ich eine glatte Eins bekommen! Ich war eine zwanghafte Zweier-Kandidatin. Das war ja toll.
»Danke!«, entfuhr es mir.
»Keine Ursache«, erwiderte meine Lehrerin.
»Streberlesbe«, zischte Fallon leise vom hinteren Ende des Klassenzimmers.
Ich drehte mich zu ihr um, als Miss Syzlack nach vorne ging, »Willst du etwa wieder anfangen?«
Sie starrte mich einen Augenblick an. »Nein«, murmelte sie dann trotzig und wandte sich wieder den Kritzeleien auf ihrem Ordner zu.
»Ja, Flora, du hast die einzige Eins der ganzen Klasse bekommen«, verkündete Miss Syzlack.
Ich konnte nichts dafür, aber ich platzte beinahe vor Stolz. Das sollten sie gelegentlich mal im Job machen. Wenn man Wochen auf einen Bericht verwendet hat, mit richtig aufwendigen bunten Diagrammen und allem Drum und Dran, dann sollte man eine dicke fette Note dafür bekommen, und alle sollten zutiefst beeindruckt sein, statt bloß gelangweilt drin herumzublättern und das Ganze anschließend gleich in den Mülleimer zu werfen.
»Sie ist die Einzige, die nicht ihren gesamten Aufsatz einfach im Internet ausgeschnitten und eingefügt hat. Es geht hier um eure eigenen Ideen, Leute.«
Die ganze Klasse stöhnte auf - und ich mit, als mir klar wurde, wie viel Zeit ich auf diesen literarischen Erguss verschwendet hatte. Aber es war mir egal. Ich strahlte immer noch vor Freude. Und heute Nachmittag hatte ich bloß noch drei Stunden Kunst, und danach wollten wir zu fünft (mit Ethan und Kendall) ins Café gehen, Eis-Cola trinken und eine ausgedehnte Party-Nachfeier veranstalten. Hurra! Ich hatte ganz vergessen, dass Partys immer Gesprächsstoff für viele Wochen lieferten und lang und breit durchgekaut werden mussten. Diesmal würde ich Fallon so richtig schön fertig machen!
In der Mittagspause machte ich mich klammheimlich vom Acker. In der ganzen Aufregung hätte ich fast vergessen, dass ich mit Tashy verabredet war. So langsam wurde ich eine Expertin im Hinausschleichen, aber ehrlich gesagt wollte ich auch unbedingt den neuesten Klatsch und Tratsch hören und erzählen.
Ich hatte einen Bärenhunger und verschlang gierig einen überbackenen Toast und einen Schoko-Milkshake - ich war immer so unglaublich hungrig während Tashy kreuzunglücklich in der schwül-warmen Luft des kleinen Cafés hockte und mir beim Essen zusah.
»Weißt du noch damals, als ich die Fröhliche war und du die Sorgentante?«, fragte sie.
Gewaltsam zwang ich mich, nicht mehr andauernd daran zu denken, dass ich einen Siebzehnjährigen geküsst hatte.
»Aber ich mache mir doch auch Sorgen!«, beeilte ich mich zu protestieren. »Mir bleiben noch genau zwölf Tage Zeit, bis ich mir selbst begegne und mich in Luft auflöse. Oder vielleicht wird mein anderes Ich mich adoptieren. Kann ich noch einen Toast essen? Habe ich dir schon erzählt, dass ich eine Eins bekommen habe?«
Tashy wandte den Blick ab und seufzte tief. »Können wir darüber reden oder willst du dich bloß voll stopfen und so tun, als hättest du mit nix was am Hut.«
»Okay, Tash«, sagte ich. »Heirate ihn nicht. Bitte. Tu es nicht. Du findest schon noch einen anderen, ganz bestimmt.«
»Darum geht es nicht«, widersprach sie.
»Hochzeiten werden doch alle naselang abgesagt. Und in ein paar Jahren hast du eine lustige Geschichte zu erzählen.«
»Darum geht es auch nicht«, sagte sie. »Hör auf, dich so ... jung zu benehmen.«
Ich schob die Unterlippe vor.
»Weißt du was?«, fuhr sie fort. »Ich bin beinahe versucht zu sagen, zum Geier mit den 30.000 Pfund.«
»30.000 Pfund!«, rief ich. »Bist du bescheuert? Damit hättest du 16-mal um die ganze Welt reisen können!«
»Ja, besten Dank. Olly hat mich auch schon darauf hingewiesen. Aber sag du mal meiner Mutter, sie soll Tante Nesta wieder ausladen.«
»Tja, ist ja auch wirklich gut angelegtes Geld«, brabbelte ich hastig. »Und Nesta betrinkt sich und kippt während der Ansprachen vom Stuhl.«
»Echt? Tja, dann lohnt sich der ganze Aufwand ja wenigstens.« Tashys Stimme klang bitter.
»Ja«, murmelte ich.
»Nein«, bellte sie unvermittelt und spielte aggressiv mit dem Süßstoff. »Darum geht es nicht. Es geht nicht um diesen ganzen Kram. Das ist mir endlich klar geworden. Die ganze Nacht habe ich heulend neben Max gelegen. Nachdem er den ganzen Abend mit einem Freund am Telefon über Computer gelabert hatte.«
»Alles eine Frage der Kommunikation«, brummte ich.
»Und ich habe mir gedacht: Ich halte das nicht aus. Ich halte es einfach nicht aus. Ich kann nicht mit diesem Mann essen gehen oder ihn mitnehmen, wenn ich mich mit meinen Freunden treffe, wenn er so todlangweilig ist und mich überhaupt nicht unterstützt und so gar nicht wie ich ist.«
Ich nahm ihre Hand.
»Deine Finger sind total fettig«, murrte sie und guckte sich um, ob man sie versehentlich für eine Pädophile auf Beutefang halten könnte.
»Entschuldigung«, murmelte ich. Ich wischte mir die Hände an meinem Schulrock ab und hatte das Gefühl, gerade einen ordentlichen Rüffel von einem Erwachsenen eingesteckt zu haben. Dann wurde mir klar, wie blöd das war.
»Okay, gut, dann lass es eben«, sagte ich. »Sieh mich an. Die Welt steckt offensichtlich voller Überraschungen. Schicksalhafte Wendungen lauern um jede Ecke. Du musst einfach nur -«
»Flora«, unterbrach Tashy mich ernst. »Das ist jetzt sehr wichtig. Willst du wieder zurückkommen?«
Irgendwie fühlte ich mich überrumpelt. »Ich dachte, wir reden hier über dein Leben«, grummelte ich.
»Ich meine es ernst, Flo. Es ist sehr wichtig.«
Und ich dachte darüber nach. Ganz angestrengt. Ich dachte ans Büro. Und ich dachte an meinen 32-jährigen Körper. Ich dachte an die Kunsthochschule. Und an Justin. Und Clelland. Und an die vielen Möglichkeiten - alles anders zu machen, zu verändern. Aber am allermeisten dachte ich an meine Mum und meinen Dad.
»O Gott«, stöhnte ich.
»Was?«, fragte Tashy. »Was ist denn?«
»Tja ... na ja«, stammelte ich, »ich meine, klar.«
Tashy sagte erst mal gar nichts und starrte mich bloß mit einem total entnervenden, durchdringenden Blick an. Dann: »Das klingt, als seist du dir da nicht so sicher.«
»Aber meine Mum, Tash. Meine Mum. Du hast sie noch nicht so gesehen ... ich meine, du kennst sie, aber du kriegst das ganze Drama nicht so hautnah mit wie ich. Die vielen Tränen, die vielen Anrufe ... ich glaube, mein Dad verlässt sie - und beim ersten Mal habe ich sie allein gelassen. Ich bin zur Uni gegangen und habe sie ihrem Schicksal überlassen. Ich habe sie fast vor die Hunde gehen lassen.«
Wir starrten einander an. »Und was heißt das jetzt?«
Wir hatten uns beide nach vorn über den Tisch gebeugt, weil uns das so verdammt wichtig war. Die Sache war ernst sehr ernst.
Ich dachte an Clellands amüsierten Gesichtsausdruck angesichts meiner misslichen Lage. Der würde bald wieder mit seiner Madeleine nach Afrika abschwirren, und ich würde ihn nie wiedersehen. Stattdessen würde ich wieder in Belsize Park hocken, mutterseelenallein, und bald dem Club der alten Jungfern beitreten können ...
»O Gott, Tashy, ich weiß nicht... ich weiß einfach nicht... können wir die ganze Sache nicht später besprechen?«
»In eineinhalb Wochen?« Tashy wirkte gequält. »Sieh mal, Olly und ich haben viel darüber geredet.«
»Mhm?«
»Die Sache ist die. Die Sache ist die - ich kann nicht einfach die ganze Hochzeit abblasen.«
»Und warum nicht?« Irgendwie hatte ich das Gefühl, ein bisschen auf dem Schlauch zu stehen.
»Wenn du mit einem Wunsch beim Anschneiden meiner Torte in der Zeit zurückreisen konntest...«
Plötzlich fiel der Groschen. Mir klappte vor Schreck die Kinnlade runter.
»O nein«, stöhnte ich.
»Aber das könnte ich dir nicht antun«, sagte sie. »Du stehst ja völlig neben dir. Herrje ...« Ihre Stimme klang seltsam erstickt. »Was ist schon eine kleine Scheidung unter Freunden?«
»Bitte heirate ihn nicht.«
»Wenn ich dich damit dazu verurteile, dein ganzes Leben noch mal durchzumachen, in einer fremden Welt? Das könnte ich nicht. Das kann ich nicht. Tut mir Leid, Schätzchen.«
»Es ... es wird schon gut gehen«, versuchte ich sie zu beruhigen.
»Es sieht ganz danach aus, als hättest du gar keine Wahl, wenn ich nicht heirate.«
Ich starrte sie an. »Und die nächsten 60 Jahre isst Max weich gekochte Eier und furzt im Bett«, seufzte sie leise.
Da nahm ich ihre Hand, und wir sahen uns mit verschwommenem Blick und Tränen in den Augen an. Die ganze Zeit... ich meine, ja, ich hasste es, hier zu sein, aber es gab schließlich weitaus schlimmere Dinge, die mir hätten zustoßen können, oder nicht? Selbst wenn ich nicht da war, wo ich hingehörte. Dann fiel mir etwas ein.
»Ich sollte sowieso besser hier bleiben«, sagte ich. »Wegen Mum.«
»Du weißt es nicht. Du weißt nicht, wie du dich am Tag X entscheiden wirst. Du weißt es nicht, okay?« Sie war wütend. »Und wenn ich dir dieses Fenster vor der Nase zuschlage, dann war‘s das. Game over. Hockeyschläger und Führerscheinprüfungen bis zum Jüngsten Tag.«
Stumm saßen wir da, während uns Tränen übers Gesicht liefen.
»Stimmt was nicht?«, fragte Justin, der spielerisch Blätter in die Luft wirbelte, als er mich auf dem Weg nach draußen einholte. Seine Füße sahen riesig aus in den Turnschuhen, in keinem rechten Verhältnis zu seinen dürren Beinchen. Ich musste lächeln.
»Nein, alles okay«, winkte ich ab und schüttelte den Kopf. Nichts, was ich diesem Unschuldslamm aufbürden wollte.
Wir gingen in Richtung Café. Stanzi, Kendall und Ethan saßen bereits nebeneinander in der gepolsterten Sitzecke. Stanzi spielte an einer großen roten Plastiktomate herum, ganz offenkundig entzückt, die Henne im Korb zu sein.
»Hey, hey«, rief Ethan, als wir hereinkamen, und ich setzte mich. Dann schaute ich mich um. Der Laden war genauso gammlig, wie ich ihn in Erinnerung hatte, mit Aschenbechern aus Stanniol und Gardinen, die bloß noch der fettige Dreck zusammenhielt. Die gesprungenen Fliesen strotzten nur so vor Schmutz. Aber, dachte ich, als ich die klebrige laminierte Speisekarte nahm, das machte mir nichts aus. Wichtig war bloß, dass wir hier waren, in der Hauptstraße, coole Kids, die die Stadt unsicher machten und Eis-Colas tranken. So schlimm, wie wir dachten, konnte die Welt doch nicht sein, oder? Das mit Tash würde sich schon einrenken, oder nicht? Ich guckte Justin an, der gerade bei der oberunfreundlichen Kellnerin was für mich bestellte. Kendall und Ethan unterhielten sich darüber, was sie machen wollten, wenn sie mit der Schule fertig waren.
»Ich gehe zum Raumfahrtprogramm«, verkündete Kendall ernsthaft. »Die brauchen gute Ingenieure.«
»Jedenfalls bessere als sie momentan haben«, pflichtete Ethan ihm bei. »Ich glaube, ich gehe aufs St. Martin‘s.«
»Oh, ich auch«, platzte ich ohne nachzudenken heraus.
»Ehrlich? Eine Kunsthochschule? Du?«
»Nennst du diese liebreizende junge Lady etwa eine Streberin?«, fragte Justin und streute noch ein bisschen Zucker auf seine Eis-Cola.
»Nein«, erwiderte Ethan. »Hey, dann können wir ja zusammen unseren inneren Schweinehund entdecken.«
»Vielleicht nicht unbedingt zusammen«, sagte ich.
»Nein«, stimmte Justin zu.
»Ich werde Modedesignerin«, erklärte Stanzi. »Alle großen Designer kommen aus Italien.«
»Bis auf die französischen«, wandte ich ein.
»Ich gründe Di Ruggerio Designs. Fantastisch.«
»Ich will ja nicht unhöflich sein«, sagte Justin, »aber du hast neuerdings jeden Tag ein Darius-T-Shirt über deinem Schul-Shirt an.«
Lächelnd blickte ich aus dem Fenster. Draußen ging Fallon vorbei, ganz allein. Sie wirkte missmutig und trat nach einem Blatt, das ihr im Weg lag. Und dann ging mir auf, warum: Sie hatte uns alle durchs Fenster hier sitzen sehen. Ich starrte sie an, bis sie endlich hochguckte und mich sah.
»Komm rüber«, formte ich mit den Lippen und winkte sie heran. Sie zeigte mir einen Vogel, und ich lächelte sie an. Es war echt bescheuert.
»Komm rein!«, forderte ich sie noch mal auf.
Nach kurzem Zögern kam sie herein.
Kendall und Stanzi rückten zusammen und machten ihr Platz, allerdings erst nachdem Stanzi mir einen vorwurfsvollen Blick nach dem Motto »Was zum Teufel soll das denn?« zugeworfen hatte.
»Cola?«, fragte ich freundlich.
»Light«, entgegnete sie.
Es machte Spaß. Wirklich großen Spaß. Und es lenkte mich von den Entscheidungen ab, die ich treffen musste. Wir waren unbesiegbar, nichts war unmöglich, wir konnten die ganze Welt erobern, wenn wir nur wollten. Und als Justin und ich dann im goldenen Abendlicht nach Hause gingen, da war ich tatsächlich nur ein Schulmädchen mit einer Schultasche über der Schulter, das an seiner Krawatte zog, die es inzwischen wieder ohne nachzudenken band.
»Was denkst du gerade?«, fragte Justin.
»Ähm, ich...«
Doch noch ehe ich antworten konnte, beugte er sich rüber und küsste mich, und das mitten auf der Straße. Eine saublöde Idee. Schließlich standen wir genau vor dem Haus seiner Eltern. Am helllichten Tag. Jeden Moment konnte jemand vorbeikommen. Meine Eltern, Tashy, Clelland ... Nach einer Sekunde wand ich mich aus seinen Armen.
»Das ist doof«, sagte ich.
»Wieso ist das doof?«, fragte er und kam schon wieder näher.
»Weil es ... doof ist.«
Er verdrehte die Augen und wirkte überrascht. »Doof ... wie meinst du das?« Und wieder lächelte er und streichelte mir sanft den Nacken, was sich irgendwie seltsam vertraut anfühlte. Ich schloss die Augen. Ich spürte, wie er langsam immer näher rückte. Ich ließ die Augen zu. Sanft küsste er mich auf den Hals. Ein wundervolles Gefühl. Der sonnige Herbsttag war nicht mehr als ein blendendes Licht jenseits meiner Augenlider, und ich überließ mich dem köstlichen Gefühl von Justins Lippen und seinem Körper, der sich gegen mich presste.
Ich überließ mich ganz und gar diesem Gefühl. Seinen weichen, jungen Lippen, seinem 17-jährigen Körper. Durch sein T-Shirt konnte ich die sehnigen, harten Muskeln spüren. Er war schon dabei, ein Mann zu werden. Sein Mund war salzig und weich und hart zugleich und schmeckte so gut wie ... so gut wie ... nein, ich wollte gar nicht daran denken, wann ich das letzte Mal so unter einem frühherbstlichen Himmel geküsst worden war. Ich schloss die Augen und ließ mich von diesem Gefühl wegtragen.
Völlig aufgewühlt schnappte er nach Luft, als er meine knackigen kleinen Brüste berührte. Wie lange war es her, seit ich jemanden so erregt hatte, dass er nach Luft schnappen musste, und wie lange, seit jemand mich geküsst hatte, als würde er ertrinken oder als würde er sterben, wenn er seinen Körper nicht gegen meinen pressen konnte? Zu verdammt lange.
»Was zum Teufel macht ihr da?«
Clelland kam aus einem kleinen schwarzen Fiesta gestürmt, der am Bordstein angehalten hatte. Am Steuer saß Maddie und guckte unbeschreiblich missbilligend. Clelland blickte ungläubig von mir zu Justin und wieder zurück.
Ich schluckte schwer. Was zum Teufel machte ich hier?
»Sachte, Bruder«, sagte Justin. »Ganz sachte.«
Clelland hatte eine Mordswut. Doch dann, man konnte es genau in seinem Gesicht sehen, schluckte er heftig, als wollte er seinen ganzen Zorn hinunterschlucken. Seine Augen waren aber noch immer kohlschwarz und funkelten und glühten vor Wut. Er wandte sich mir zu, und ich spürte, wie mir das Herz in die Hose rutschte.
»Lass die Finger von ihm«, fauchte er.
»Ahm, ja, entschuldige bitte, ignorier mich einfach, ich steh hier bloß so rum«, mischte Justin sich ein und bemühte sich krampfhaft, unbeeindruckt zu wirken.
»Halt dich da raus.«
»Tut mir Leid«, sagte ich. »Ich bin bloß -«
»Ich kann‘s nicht... ich kanns einfach nicht fassen, dass du zu so was fähig bist, Flora. Ich fass es einfach nicht. Ich meine. das ist so was von ... so was von ... also ehrlich ...«
»Es tut mir Leid! Es tut mir Leid! Ich habe doch nicht - ich wollte doch nicht...«
»Was wäre, wenn du ein Junge wärst und er ein Mädchen, hm? Hast du darüber schon mal nachgedacht?«
»Hä?«, sagte Justin.
»Das wäre was ganz anderes«, entgegnete ich. Die Tränen aus der Mittagspause stiegen wieder in mir auf.
»Nein, nein, wäre es nicht, Flora. Kapierst du das denn nicht?«
»Aber -«, begann ich.
»Du widerst mich an. Ist das eine abgedrehte, verspätete Rache? An mir?«
»Nein!«, rief ich. »Ganz bestimmt nicht. Nein.«
»Sieht aber ganz danach aus.«
»Was zum Geier geht hier ab?«, fragte Justin. Er wirkte ziemlich verstört. »Geht hier irgendwas ab?«
»Nein!«, sagten wir im Chor.
»Mein Gott«, presste Clelland hervor. »Du bist so was von ... ich schäme mich für dich.«
Justin sah mich an, und dann ihn. Ich zitterte am ganzen Leib. Wirklich wahr.
»Komm, Justin. Um die machst du in Zukunft besser einen großen Bogen.«
Im Weggehen warf Justin mir einen langen, sehnsüchtigen Blick zu.
»Wiedersehen«, flüsterte ich mit erstickter Stimme.
»Oh, guck mal, das kleine Mädchen weint«, spottete Clelland. »Eine Runde Mitleid für das arme kleine Mädchen. Es ist so naiv. So unbedarft. Es macht noch so viele Fehler. So verdammt viele Fehler.« Er funkelte mich mordlustig an.
Ich blickte ihm mit offenem Mund hinterher.
»Würdest du mir bitte mal verraten, was hier vor sich geht, verdammt noch mal?« Madeleine war aus dem Auto gestiegen und stand nun in der Tür und starrte uns drei an.
»Nichts«, bellte Clelland. »Du würdest das sowieso nicht verstehen.«
»Ach, meinst du?«, kläffte sie zurück. »Weil ich ja nie was verstehe, stimmt‘s, John? Außer natürlich dass ich mich bemühe, immer das Richtige zu tun.«
Sie stieg wieder ins Auto und knallte die Tür zu. Clelland packte Justin und dirigierte ihn in Richtung Wagen, dann stiegen sie ein und fuhren ohne einen Blick zurück davon.